Berlin jagt den ersten Serienmörder der Stadtgeschichte
März 1856. An der Königsmauer, der berüchtigten Bordellgasse Berlins, wird die Leiche einer jungen Frau aus gutem Haus gefunden. Auf den ersten Blick ist klar: Sie wurde stranguliert. Der Leichenbeschauer entdeckt jedoch seltsame Kerben am Schienbein, die er bereits bei drei anderen Opfern nachgewiesen hat. Sie alle waren Prostituierte, keiner der Morde wurde aufgeklärt. Haben es der junge Kriminalkommissar Wilhelm von der Heyden und sein Kollege Vorweg mit dem ersten Serienmörder der Stadt zu tun? Der Druck auf sie wächst von Tag zu Tag: Sollte die Presse von den Fällen erfahren, wird Angst die Stadt erfassen …
Vier junge Frauen und ein skrupelloser Täter – Wilhelm von der Heyden ermittelt in einem neuen Fall.
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Bastei Lübbe
Paperback, 511 Seiten
Altersempfehlung: ab 16 Jahren
ISBN: 978-3-7857-2789-8
Ersterscheinung: 29.07.2022
Leseprobe
Sie waren Nachbarn gewesen im Grünen Weg, unweit des Hospitals. Die Straße lag außerhalb der östlichen Stadtmauer und bestand in ihrer Kindheit aus nur wenigen kleinen Häusern, in denen sich die Familien drängten. Sie wohnten zwar nicht unmittelbar nebeneinander, aber da in der Straße jeder jeden kannte, konnte ihre Beziehung durchaus als nachbarschaftlich bezeichnet werden. Jeder kannte die Schraders, eine Familie mit drei Söhnen und zwei Töchtern, die ebenso wie die schweigsame und scheue Ehefrau unter dem strengen Regime von Vater Schrader standen. Womit dieser seine Taler verdiente, war unklar und
Anlass für allerlei Gerüchte in den Geschäften, den Kneipen und auf dem Markt. Gerüchte, die allerdings nur hinter vorgehaltener Hand kolportiert wurden, denn niemand, wirklich niemand wollte sich mit dem großen staatlichen Mann mit dem finsteren Blick anlegen.
Vater Schrader war offiziell Sattlermeister und hatte im Hinterhof eine kleine Werkstatt, in der er anzutreffen war, wenn er nicht gerade auf dem Markt oder in den umliegenden Kneipen unterwegs war, um Geschäfte zu tätigen oder, wie er es nannte, »aktive Nachbarschaftshilfe« zu leisten. Diese bestand in der Regel darin, Leuten, die es dringend brauchten, zu Geld zu verhelfen. Vater Schrader zog dann eine Geldkatze aus dem Rock, die immer prall gefüllt zu sein schien, zählte den vereinbarten Betrag auf den Tisch und schrieb die Summe nebst Rückzahlungstermin in ein kleines Notizbuch, das er ebenfalls immer bei sich trug. Der Schuldner musste unterschreiben, und spätestens zum vereinbarten Termin das Geld nebst Zinsen zurückzahlen. Über die Höhe der Zinsen herrschte ebenso Unklarheit wie über die Frage, ob Vater Schrader jemals auf einem Kredit sitzen geblieben war.
Wie häufig bei solchen Gelegenheiten schossen die Spekulationen ins Kraut: Die Zinsen sollten dreißig Prozent betragen, munkelten manche, andere waren sich sicher, dass Vater Schrader bis zu fünfzig Prozent forderte. Und was säumige Schuldner betraf? Angeblich sollte es zwei- oder dreimal vorgekommen sein, dass jemand seine Schuld nicht begleichen konnte. Einer sollte im nahen Hospital untergekommen sein, ein anderer blieb gänzlich verschwunden. Vater Schrader trat den Gerüchten nicht entgegen – nicht was die Zinsen und schon gar nicht, was die Schuldner betraf. Die Gerüchte hielten ohnehin niemanden davon ab, in Notsituationen die Werkstatt aufzusuchen und sie nach einigem Hin und Her mit dem benötigten Geld in der Tasche wieder zu verlassen.
Die Werkstatt war groß gewesen, daran konnte sich Vorweg noch erinnern. An den Wänden hingen Sättel, Zaumzeug, Kummets und anderes Fahrgeschirr, die hier für den Bedarf der Armee produziert wurden. Hauptsächlich von Gesellen unter der Anleitung der beiden älteren Söhnen, Zwillingsbrüdern, ebenso groß und stark wie der Vater und ebenso finster blickend. Niemand konnte sich daran erinnern, dass Vater Schrader jemals selbst Hand an die Produkte seines Hauses gelegt hätte. Er saß in der Regel auf einem Sofa hinter einem großen Tisch, der stets mit Papieren aller Art übersät war, und rauchte seine Pfeife. Ein Bittsteller musste vor ihm Platz nehmen und sein Anliegen schildern. Nur wenn es Vater Schrader genehm war, kamen Geldkatze und Notizbuch zum Einsatz. Wie Vorweg später festgestellt hatte, entbehrten die Gerüchte über das Kreditgeschäft zwar nicht jeder Grundlage, waren aber maßlos übertrieben. Vater Schrader folgte einem einfachen Prinzip: Er nahm stets zehn Prozent bei einer Laufzeit von zwei Monaten. Übte der Schuldner aber eine Tätigkeit aus oder verfügte über Fertigkeiten, die für Vater Schraders andere Geschäfte nützlich waren, oder verfügte der Schuldner über Verbindungen, die für eben diese Geschäfte nutzbringend eingesetzt werden konnten, gab es einen gesonderten Vorschlag, der nicht notiert wurde. Die Zinsen wurden auf fünf Prozent herabgesetzt, manchmal auch komplett erlassen. Dafür bat Vater Schrader freundlich um einen kleinen Gefallen, der einlösbar war und den Schuldner kaum in Schwierigkeiten bringen konnte, auch wenn dieser Gefallen in manchen Fällen gegen das Gesetz verstieß. Denn Vater Schrader betrieb nicht nur seine Sattlerei, sondern beschäftigte sich darüber hinaus mit anderen, mindestens ebenso einträglichen Geschäften.
Wie überall in Berlin gab es auch in den umliegenden Vierteln Diebesbanden oder Gelegenheitsdiebe. Besonders Letztere verfügten nicht über ein gut organisiertes Netz von Alibigebern, Hütern von Verstecken oder Hehlern, die die gestohlene Ware zu Geld machen konnten. Hier kam Vater Schraders »Nachbarschaftshilfe« zum Tragen. Auffälliger Schmuck musste umgearbeitet oder Wertpapiere aus der Stadt geschafft werden, um andernorts zu Geld gemacht zu werden. Geschirr, Kronleuchter und andere Dinge aus Edelmetall wurden eingeschmolzen und weiterverarbeitet. Vater Schrader hatte immer die erforderlichen Fachleute bei der Hand, Fachleute, die keine Fragen stellten und sich über ein steuerfreies Einkommen freuten. Mit der Zeit hatte er sich auf diese Weise ein kleines und verschwiegenes Imperium mit zahlreichen lukrativen Einkommensquellen legaler und nicht legaler Provenienz aufgebaut, war aber, diesen Erfindungsreichtum musste man ihm lassen, stets an weiteren Ideen interessiert.
An einer hatte er besonders lange herumgetüftelt. Sie betraf die Gegend zwischen der Freimaurerloge der drei Weltkugeln und dem Mariannenplatz. Hier, auf der anderen Seite der Spree, wohnte ein wesentlich betuchterer Teil der Stadtbevölkerung in komfortablen Häusern zwischen teuren Geschäften, Salons und Clubs. Vater Schrader hatte lange überlegt, wie er vom dort reichlich vorhandenen Geld etwas für sich abzweigen konnte. Natürlich ging das nicht über Einbruch, Raub und Erpressung – er wäre früher oder später mit der Polizei in Konflikt gekommen und unterlegen, darüber machte er sich keine Illusionen. Außerdem mochte er keine Gewalt anwenden, wenn es nicht absolut notwendig war. Es musste also ein anderer Plan her, und als er tatsächlich irgendwann in die Nähe rückte, sah er rosige Zeiten am Horizont auftauchen.
Vater Schrader hatte, auch wenn man es ihm nicht ansah und angesichts seiner Herkunft und Lebensumstände kaum für möglich gehalten hätte, eine Vorliebe für Geschichte und Kunst. Er besuchte, wann immer es ihm möglich war, die zahlreichen Galerien und Museen der Stadt, vor allem dann, wenn die Eröffnung einer neuen Ausstellung anstand. Neue Exponate aus fernen Ländern und noch ferneren Zeiten faszinierten ihn, und er konnte stundenlang jedes Detail betrachten. Was dann geschah, hatte er später den Jungen in seiner Werkstatt immer wieder höchstselbst berichtet.
Er hatte, ganz versunken in den Anblick einer ägyptischen Mumie in ihrem geöffneten Sarkophag, das Gespräch der beiden Damen zunächst nicht mitbekommen, die sich mit wohligem Schaudern über den freigelegten schwarzen, leicht geschrumpften Schädel mit den riesigen Augenhöhlen beugten und ihre Gedanken ohne Rücksicht auf die Umstehenden laut austauschten. Nun bestand das Publikum in dieser Sekunde lediglich aus Vater Schrader und einem weiteren Herrn, doch hatte er nach einem kurzen Blick keinen Zweifel daran, dass die Damen ebenso laut gesprochen hätten, wenn mehrere Personen anwesend gewesen wären.
»Was für ein grässlicher Anblick«, flötete die Ältere der beiden Damen aufgeregt, ohne freilich den Blick abzuwenden.
»Ja, Mama. Absolut grauenvoll, dermaßen ausgestellt zu werden «, erwiderte die Jüngere und kicherte. »Wer weiß, wie es uns in ein paar Tausend Jahren ergeht.«
Beide Frauen glichen sich nicht nur in Gesicht und Statur, sondern trugen fast identische Kleider und Frisuren. Auch ihre Gesten und Stimmen waren dieselben, in einer jüngeren und einer älteren Ausgabe. Die Mutter überging den Scherz ihrer Tochter.
»Weißt du, dass es in Wien und anderen Städten in Süddeutschland eine neue Mode gibt? Damen und Herren finden sich zu einem festlichen Souper zusammen und gehen nach dem Essen in einen extra vorbereiteten Raum. Und dort ist dann eine Mumie aufgebahrt.«
»Ach tatsächlich? Und was geschieht dann, Mama?«
Ohne die Stimme wesentlich zu senken, das angedeutete Flüstern diente lediglich dazu, der Umwelt mitzuteilen, dass hier ein privates Gespräch geführt und Blicke oder andere Reaktionen unerwünscht waren, antwortete die Mutter: »Sie wickeln sie aus.«
»Mein Gott, wirklich?« Die Tochter riss die Augen auf und presste die Faust vor den Mund. Der andere Mann sah Schrader an, verdrehte die Augen und begab sich in eine andere Ecke des Raumes, wo er die Reste eines Obelisken zu studieren begann.
»Ja. Deine Tante war im letzten Jahr dabei und hat mir alles bis ins kleinste Detail geschildert. Das Zimmer ist verdunkelt, nur einige Kerzen spenden Licht. Der Duft von Weihrauch liegt in der Luft, und draußen wird ägyptische Musik gespielt. Etwas morbide, wie ich finde. Muss wohl etwas mit dem Katholizismus zu tun haben, da gibt es ja auch Beinhäuser. Wie auch immer, jedenfalls wickeln die Anwesenden reihum die Mumie aus, jeder ein Stück. Und dabei wird Champagner getrunken.«
Die Tochter sah nachdenklich auf die Mumie hinab, die sie aus ihrem Sarkophag heraus blicklos anstarrte. »Aber warum? Ist das nicht etwas unschicklich?«
»Aber sicher doch, mein Liebes. Darin genau liegt der Reiz. Es werden nebenher Wetten abgeschlossen, welches Geschlecht die Mumie wohl haben wird.«
Das Kichern der beiden Damen klang für Vater Schrader, der nun die Ohren gespitzt hatte, hoch und unangenehm.
»Wenn die Sache vorbei ist und die Herrschaften wieder am Tisch sitzen, wird die Mumie fortgeschafft. Allerdings wird noch das schwarze Erdpech aus den Körpern entnommen und an Apotheker oder Ärzte verkauft. Es soll, wie mir meine Schwester schrieb, gegen Blutergüsse, Tuberkulose, Vergiftungen, Herzattacken und Übelkeit helfen.«
»Ist das dieses Mumia, das wir beim Apotheker gesehen haben?«
»Allerdings.« Die Mutter nickte überlegen, anscheinend genoss sie es, die Tochter an ihrem Wissen teilhaben zu lassen.
»Puh.« Die Tochter rümpfte die Nase. »Das ist aber ein teurer Spaß. Ein kleiner Flakon Mumia kostet immerhin drei Taler.«
»Das ist noch gar nichts gegen die Kosten für die Mumie selbst!« Die Mutter hob beide Brauen und einen Zeigefinger. »Ein vollständiges Exemplar kostet schon einmal fünfzig Taler. Mindestens.«
Da kam Vater Schrader die Idee. Der Friedhof war voller Leichen, mindestens zwei Wärter standen in seiner Schuld und konnten immer Geld brauchen, Binden ließen sich vom Lumpensammler anfertigen, bevor der seinen Rohstoff für wenige Groschen an die Papierfabriken verhökerte, und in seiner Werkstatt war genug Platz, um aus allem passable Mumien herzustellen.
»Das muss nicht sein, meine Damen«, sagte er und verbeugte sich leicht vor den Frauen, die ihn erst überrascht, dann interessiert musterten. Vater Schrader konnte sehr charmant sein, besonders wohlhabenden Damen gegenüber, die sein eher finsteres Äußeres dann rasch vergaßen.
»Ganz im Gegenteil. Ich habe einige Geschäftspartner in Alexandria, die mich hin und wieder mit interessanten Waren beliefern. Meist archäologische Fundstücke, einige Tuche, die ich in meiner Sattlerei verarbeiten kann und … andere Dinge.«
Lächelnd verbeugte er sich noch einmal, sah dann theatralisch umher, beugte sich vertraulich vor und sagte leise: »Erst kürzlich, genauer gesagt vor zwei Monaten, habe ich eine gut erhaltene Mumie aus der achten Dynastie an eine durchreisende Gräfin aus Thüringen verkauft. Wenn ich mich recht entsinne, handelte es sich um die Überreste einer Prinzessin, wohl die Tochter eines Pharaos. Die Gräfin jedenfalls war sehr angetan und nebenbei sehr erstaunt über den Preis von … fünfunddreißig Talern.«
Die aus dem Steigreif erfundene Gräfin konnte nicht erstaunter gewesen sein als die beiden Damen. Sie sahen sich an und setzten rasch eine gut einstudierte blasierte Miene auf. Doch Vater Schrader hatte ihre Gedanken lesen können, als hätten sie sie ihm selbst offenbart. Was wäre es doch für ein Fest, ihren Verwandten und Freunden einen ganz besonderen Abend zu bieten. Vielleicht konnte man, dem einmaligen Anlass entsprechend, sogar jemanden vom Hof einladen oder auch den ein oder anderen betuchten Galan, der für die Tochter infrage kommen könnte. Die Tante, oder andere Personen, die es in diesen Kreisen ja immer zu beeindrucken galt, würden blass vor Neid werden – erst recht, wenn sie von dem unschlagbar günstigen Preis erführen.
»Nun, mein Herr«, sagte die Mutter in wohlgesetzten Worten und explizitem Hochdeutsch, »ein Jammer geradezu, dass wir uns nicht eher kennengelernt haben. Es wäre mir eine Freude gewesen, Herr …«
»Schrader. Handel und Verkauf von Kuriosa aller Art.«
»… Herr Schrader, Ihnen diese Mumie abzukaufen. Aber leider zu spät.« Sie seufzte tief und schüttelte traurig den Kopf. »Es ist wohl nicht anzunehmen, dass Ihre Geschäftspartner in … wo?«
»Alexandria, gnädige Frau.«
»Eine Stadt in Ägypten, Mama. Sie liegt im Nildelta und ist für ihre verschollene Bibliothek bekannt. Kleopatra hatte dort einen Palast.«
Das wird ja immer besser!, konnte Vater Schrader noch gerade denken. Verschollene Bibliothek!
»Aber das weiß ich doch, mein Kind.« Nachsichtig tätschelte die Mutter die Hand ihrer Tochter. »Gehe ich recht in der Annahme, Herr Schrader, dass solche Mumien schwer aufzutreiben sind?«
Vater Schrader hatte natürlich keinen blassen Schimmer über die Lage auf diesem exotischen Markt. Aber es fiel ihm nicht schwer, dass Interesse der Damen weiter lebendig zu halten. »In Wahrheit gibt es in Ägypten Mumien zuhauf, wenn mir gnädige Frau diesen Ausdruck gestatten.«
Die gnädige Frau senkte huldvoll den Kopf.
»Allerdings sind die meisten in einem nicht sehr guten Zustand, vollständig erhaltene Exemplare gibt es nur wenige. Insgesamt vielleicht ein paar Hundert.«
»Tatsächlich?«
Vater Schrader nickte. »Sie sind sehr begehrt. Nicht nur hierzulande, sondern auch in Frankreich, Italien oder Spanien. Selbst in Amerika gibt es Interessenten. Das führt natürlich zu einer hohen Nachfrage eines knappen Guts, wie wir Kaufleute sagen, und die Beschaffung ist daher äußerst schwierig. Aber …«
Die Damen sahen ihn erwartungsvoll an.
»Aber meine Geschäftspartner in Alexandria sind Experten in diesen Angelegenheiten und darüber hinaus sehr zuverlässig. Ich habe nach meiner Erfahrung mit der Gräfin gleich neue Order erteilt. Und wie es der Zufall so will, haben meine Geschäftspartner mir vier Mumien offeriert, drei davon gut erhalten und nahezu vollständig.«
»Und bestünde die Möglichkeit …« Die Stimme der älteren Dame klang betont beiläufig.
»Aber selbstverständlich, gnädige Frau. Sie haben das Glück, die Erste zu sein. Das Schiff wird in etwa drei Wochen in Hamburg anlegen, die … Ware wäre dann eine Woche später in Berlin.«
Die junge Frau wippte auf den Fußballen und sah immer wieder ihre Mutter an, die es besser verstand, ihre Aufregung zu verbergen.
»Wenn gnädige Frau mir ihre Adresse mitteilen würden, wäre es mir ein besonderes Vergnügen, Ihnen gleich nach Eintreffen der Lieferung Nachricht zu geben und Ihnen die verfügbaren Stücke umfänglich zu beschreiben. Gnädige Frau könnten dann aussuchen, welche Mumie geliefert werden soll.«
Und so hatte Vater Schrader binnen weniger Minuten ein neues Geschäftsfeld entwickelt und seinen zahlreichen Aktivitäten hinzugefügt. Als er am Abend in seiner Werkstatt eintraf, rief er seine Söhne zusammen und erläuterte ihnen haarklein, was in den nächsten Tagen zu tun sei.
Die Erzählung brachte jedes Mal den gewünschten Beifall und die Bewunderung seiner Anhänger. Und auch Vorweg war fasziniert, als er das erste Mal den Worten Vater Schraders lauschte. Wie sonst auch betätigte sich Vater Schrader umsichtig, knüpfte Verbindungen und brachte seine Waren nur in überschaubaren Mengen auf dem Markt. Die Nachfrage stieg rasch, und in den Reihen von Altertumsliebhabern, Abenteuerlustigen und Okkultisten verbreitete sich rasch die Nachricht, dass jemand in Berlin in der Lage war, Mumien zu beschaffen. Mit langen Wartezeiten natürlich, aber es handelte sich schließlich auch nicht gerade um Alltagsware. Mit der Zeit hatte Vater Schrader festgestellt, dass er weitaus höhere Preise für ausgesuchte Stücke verlangen konnte, doch war er nicht davon abzubringen, das Geschäft weiterhin diskret abzuwickeln und stets darauf zu achten, dass nicht zu viele Mumien auftauchten. Gier war, wie er wusste, niemals ein guter Ratgeber bei Geschäften, bei zwielichtigen Geschäften allemal.
Auch die Idee mit der Bibliothek von Alexandria ließ ihn nicht los. Papyrus war, wenn auch nicht in riesigen Mengen, ohne größere Probleme zu besorgen. Es wurde schließlich nicht viel benötigt, um das eine oder andere Fragment aus dem Grab eines Pharaos herzustellen. Ein Stück von der Größe eines normalen Blattes Papier genügte vollkommen, Risse und Lücken, Brandflecken und andere Verunreinigungen waren schnell imitiert. Und was den Inhalt betraf? Nun, er hatte einen fähigen, wenn auch glücklosen Kunstmaler an der Hand, dem er in der Vergangenheit mehrfach aus finanziellen Schwierigkeiten geholfen hatte. Diesen jungen Mann brauchte er nur ins Museum zu schicken, wo Hieroglyphen auf Steinen und manchmal echten Papyri ausreichend Anschauungsmaterial boten. Freilich, einen Professor etwa konnte man damit nicht täuschen, auch ein privater Sammler, der sich auf diese Dinge spezialisiert hatte, kam nicht infrage, aber es gab genügend Männer und Frauen, die ihre Wohnungen und Häuser ein gewisses Etwas verleihen und damit die Gesellschaft beeindrucken wollten. Befriedigte Geltungssucht war noch immer der einfachste Weg, um die Geldbeutel zu öffnen.
Auch hier war Vater Schrader vorsichtig, doch ließ es sich im Lauf der Zeit nicht vermeiden, dass seine Stücke auch einem Experten unterkamen. Und als einem dieser Experten, einem emeritierten Professor aus Heidelberg, der bei Verwandten in Berlin zu Besuch weilte, voller Stolz ein gerahmter Papyrus gereicht wurde, brach dieser nach einer ungläubigen Pause in schallendes Gelächter aus, was seinen Bruder und Gastgeber alles andere als glücklich machte. Der Professor schämte sich ein wenig, hatte er doch seinen Bruder bloßgestellt. Er beeilte sich, sein Urteil zu relativieren und sprach von einer sehr geschickten Fälschung, was Material und Schreibstil betraf, und merkte an, dass nur ausgewiesene Experten in der Lage seien, die tatsächliche Sachlage zu ergründen. Jedem könne das passieren, fügte er bedauernd hinzu, doch der Abend war nicht mehr zu retten.
Zum Glück für Vater Schrader war das Geschäft über mehrere Ecken abgewickelt worden, doch die Nachricht, dass in Berlin zahlreiche Fälschungen ägyptischer Papyri aufgetaucht waren, rief nicht nur die Polizei auf den Plan, sondern machte vor allem in den Clubs und Salons die Runde. Zwei seiner Mittelsmänner wurde der Boden zu heiß, und sie verließen Berlin, sodass die Ermittlungen der Polizei im Sande verliefen und schließlich eingestellt wurden. Aber auch für Vater Schrader wurde die Sache zu gefährlich und er legte das Projekt, wenn auch schweren Herzens zur Seite.