Band 1: Des Kummers Nacht

Von der Heydens erster Fall

Berlin, 1855: Willy von der Heyden steht kurz vor Abschluss seines Studiums, als er Zeuge einer Explosion wird. Die Fenster der gegenüberliegenden Wohnung sind zerstört, eine Frau hängt leblos im Zaun. Um ihr zu helfen, eilt er an den Unglücksort – und gerät selbst in Verdacht. Der Wachtmeister hat sein Urteil schon gefällt, der Chef der Kriminalpolizei ist jedoch von Willys Beobachtungsgabe begeistert und stellt ihn ein. Bald führen die Ermittlungen sie in die höchsten Kreise, denn das Opfer entpuppt sich als österreichische Gräfin …

Des Kummers Nacht. Von der Heydens erster Fall.
Des Kummers Nacht. Von der Heydens erster Fall.

15,00 € inkl. MwSt.
Bastei Lübbe
Paperback, 624 Seiten
Altersempfehlung: ab 16 Jahren
ISBN: 978-3-7857-2730-0
Ersterscheinung: 27.08.2021

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Leseprobe

Der nächste Morgen war kühl und neblig. Wilhelm hatte sich rechtzeitig auf den Weg gemacht, um Vorweg am Eingang der Alexanderkaserne zu treffen. Seine Hoffnung auf eine ruhige Nacht hatte sich nicht erfüllt. Der Alptraum war mit Wucht, aber auch mit einer Neuheit zurückgekehrt. Er war wie immer in das bewaldete Tal mit dem plätschernden Fluss zwischen den beiden Gütern hinabgestiegen und streifte über die bewaldeten und mit Kraut überzogenen Wallreste der Slawenschanze. Oder Schwedenschanze, die Ansässigen waren sich darüber ebenso wenig einig, wie Wilhelm, der mal diese und mal jene Bezeichnung nutzte. Er wollte nicht den Weg nach Norden einschlagen, doch wie immer fand er sich schließlich an der Stelle wieder, an der sich der Fluss in den See ergoss und von wo aus die Landzunge mit dem riesigen abgestorbenen Baum zu sehen war. Wie immer konnte er sich nicht an das Wegstück zwischen Wallanlage und See erinnern, obwohl er an einem kleinen Gasthaus und einer stets mit Schafen gespickten grünen Wiese vorbeikommen musste. Der Traum leitete ihn wieder durch das Schilf auf den Baum zu und diesmal erkannte er nicht nur deutlich zwei Gestalten, sondern kam auch nahe an sie heran. Die Gestalten standen vollkommen still. Die Frau, angetan mit einem blendend weißen Unterkleid und einem halbdurchsichtigen Schleier, der an ein Hochzeitskleid erinnerte, sah ihn direkt an. Keine Falte des Schleiers bewegte sich, ebenso wenig wie das Unterkleid, obwohl er einen starken Lufthauch spürte in dem sich das Schilf wiegte. Die andere Gestalt war ein Mann. Er stand im hohen Gras mit dem Rücken zu ihm, angetan mit der Uniformjacke eines Offiziers. Übergangslos verschwand er und tauchte einige Meter weiter auf, neben dem Baum, hinter dessen gewaltigen Stamm er trat und nicht mehr zu sehen war. Wilhelm kam nicht dazu, zu überlegen, wie der Mann so schnell den Platz ändern konnte, aber schließlich war es ein Traum und er war es bereits gewohnt, sich in diesem Traum zu betrachten und Überlegungen anzustellen – wenn er nicht abgelenkt wäre. Denn gerade, als die Panik wieder einsetzte und er zu ertrinken drohte, fiel ihm ein, dass ihn die Frau, die jetzt auch verschwunden war, an seine Mutter erinnerte.

Mit diesem Gedanken wachte er im schweißnassen Laken auf und dieser Gedanke ließ ihn auch nicht los, nachdem sich sein Puls normalisiert hatte und er wieder frei atmen konnte. Hatte er tatsächlich seine Mutter gesehen? Und was hatte das zu bedeuten? Wer war der Mann, der mit eigentümlichen Schritten hinter dem Baum verschwand? Hinkte er? Hatte er eine Verletzung? Um seinen Vater – da war er sich sicher – handelte es sich jedenfalls nicht. Jedenfalls hatte sich in letzter Zeit in seinem Traum einiges getan. Immer neue Hinweise, immer neue Variationen waren aufgetaucht und wenn es in diesem Tempo weitergehen sollte, würde er der Ursache vielleicht bald auf den Grund gehen können. Endlich etwas Positives, endlich ein Silberstreif am Horizont, nach all den Jahren der Ängste, nach allen Jahren der Panik, nach allen Jahren der Unsicherheit. Könnte dann der Alptraum der Vergangenheit angehören?

Mit diesem versöhnlichen Gedanken schob Wilhelm den Traum beiseite, wusch sich den Schweiß vom Körper, zog sich an und verließ das Zimmer. Er entschuldigte sich bei Frau Brenke, dass er sofort los müsse, sie aber nötigte ihn, eine Tasse Kaffee zu trinken und wenigstens ein Honigbrot zu essen. Zwanzig Minuten später traf er an der Kaserne ein. Eine Uhr über dem Tor teilte ihm mit, dass er es fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit geschafft hatte und so betrachtete er versunken die benachbarte Baustelle des künftigen Viktoriatheaters, die allmählich Gestalt annahm, als Vorweg neben ihn trat.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen.“

„Sind Sie bereit?“

„Ich denke schon.“

„Gut, dann kommen Sie. Ich habe vorhin bereits einen Blick durch das Fenster geworfen, unser Mann ist anwesend.“

Vorweg führte ihn an der Rückseite der Kaserne entlang, an der Baustelle vorbei und bog links in eine kleine Gasse und anschließend rechts in eine noch kleinere Gasse. Schlagartig wurde es dunkler, als es ohnehin schon war. Auch auf den größeren Straßen hatte die Sonne heute Schwierigkeiten, den Nebel zu vertreiben. Hier standen die meist zweistöckigen Häuser enger beieinander und nur aus wenigen schien morgendliches Licht auf die Gasse mit dem schadhaften Kopfsteinpflaster.

„Dort vorn ist es“, sagte Vorweg und wies auf ein Haus, über dessen Tür ein Schild leicht schief in die Gasse ragte. Ein Schriftzug und ein passendes Bild wiesen darauf hin, dass es sich hier um das Gasthaus zur Möwe handelte. „Überlassen Sie das Reden mir und vermeiden Sie schnelle Bewegungen. Bleiben Sie ganz ruhig, dann sind wir in ein paar Minuten wieder draußen. Einverstanden?“ Vorweg sah ihn fragend an.

Wilhelm nickte.

„Gut.“ Vorweg griff in seine Jackentasche, ging die wenigen Schritte zur Tür, öffnete sie ruhig und trat ein. Er war noch keinen Schritt weit gekommen, als ihn ein untersetzter Mann in Hemdsärmeln aufhielt und die Hand auf die Brust legte.

„Geschlossen. Komm heute Abend wieder“, sagte der Mann weder freundlich noch unfreundlich.

Vorweg hatte die Hand aus der Tasche genommen und hielt dem Mann, dessen Atem nach Knoblauch oder etwas Ähnlichen roch, seine Polizeimarke vor die Augen. Er gab dem Mann zwei Sekunden Zeit, dann nahm er sacht seine Hand von der Brust.

„Für uns ist geöffnet“, stellte er sachlich fest. „Keine Angst, wir wollen nur reden.“

Der Mann starrte ihn einen Augenblick an, zuckte dann kurz mit den Achseln und drehte sich um. Er öffnete eine Tür zur Linken, über der Gaststube geschrieben stand und stieg zwei Stufen hinunter, als er verkündete: „Wir haben Besuch. Polizei.“

Die drei kleinen Fenster zur Gasse ließen nur wenig Licht herein, dennoch war zu erkennen, dass der Fußboden ebenso wie die zehn Tische sauber geschrubbt war. An manchen Tischen waren Stühle und Hocker hochgestellt worden, an vier von ihnen, über den Raum verteilt, saßen einzelne Männer, die beim Wort „Polizei“ aufgefahren fahren und sich dann betont langsam zurücksinken ließen. Auf der rechten Seite, den Fenstern gegenüber, befand sich ein großer Tresen, in dessen Regal Flaschen und Gläser aufgereiht waren. Ein Mann in Schürze hielt ein Tuch und ein Glas in der Hand und nach einem kurzen Zögern polierte er weiter, absolut desinteressiert an den Besuchern. Ein Mann am Fenster fuhr fort, mit einem Taschenmesser die Nägel zu säubern, ein anderer fuhr fort, stumpf in sein Glas zu starren. Der Türposten ging zu einem Tisch vor dem Tresen, beugte sich zu einem Mann und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Der Mann, der als einziger absolut keine Reaktion gezeigt hatte, war riesig. Und fett, geradezu absurd fett. Was bei Fleischmann im Leichenschauhaus schon gewaltig aussah, wurde hier mühelos überboten. Der Mann hatte Oberarme, die an Umfang mühelos zwei kräftige Oberschenkel in den Schatten stellten, doch was war bei Fleischmann Muskeln waren, zeigte sich hier als wabbelnde Masse. Die Beine konnte Wilhelm durch den Tisch und den geradezu gigantischen Bauch, der sich darüber wölbte, nicht sehen, aber auch sie mussten gewaltig sein und es hatte den Anschein, dass der Mann gleich zwei Stühle in Beschlag genommen hatte.

Im Gesicht sah es nicht viel besser aus. Über einen Hals, der in den Schultern verschwand, wälzten sich nicht ein, sondern mindestens zwei Doppelkinne. Die glänzenden roten Wangen waren so fett, dass die dunklen Augen kaum zu sehen waren und lediglich als zwei schwarze Punkte unter einer hohen und nassen und brauenlosen Stirn vermutet werden konnten. Selbst das kurze Haar schien zu schwitzen und klebte verschämt an den Schläfen. Der Mann war sichtlich beschäftigt. In der einen Hand hielt er einen dampfenden Hühnerschenkel, den vierten, wenn es Wilhelm richtig sah und mit der anderen Hand tunkte er mit einem Stück Brot Fett aus einem Teller. Er kaute angestrengt und brachte kaum die Kraft auf, die nicht vorhandenen Brauen zusammenzukneifen und zur Tür zu schauen.

Er schluckte und ließ den Hühnerschenkel auf den Teller fallen. Die Hand wischte er an einem teuer aussehenden Hemd ab, dass zu Beginn des Tages sicher gestärkt und blütenweiß gewesen war. Den Blick zur Tür gerichtet griff er nach einem großen Bierglas und trank es langsam in einem Zug aus, ehe er es wieder auf dem Tisch absetzte. Sofort stand ein kleiner Mann in abgetragenen Sachen auf, ging an den Tisch, nahm das leere Glas und begab sich zum Tresen. Der Mann rülpste leicht.

„Kriminalsekretär Vorweg! Was verschafft mir die Ehre?“

War der Anblick des Giganten schon bemerkenswert genug, war seine Stimme ebenso überraschend. Ein hoher Fistelton entrang sich seiner heiseren Kehle, ein Ton, der an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit vielleicht für Heiterkeit gesorgt hätte. Wilhelm war sich sicher, dass niemand mehr als einmal darüber einen Scherz gemacht hatte. Dies war der Mann, der mindestens vier Tote auf dem Gewissen hatte, dachte Wilhelm. Er brauchte seine Opfer gar nicht mit seinen riesigen Pranken würgen, es würde absolut reichen, sich einfach auf sie zu setzen und zu warten, bis das Leben aus ihnen gewichen war. Wieso sahen manche Gauner tatsächlich wie Gauner aus?

„Eduard Neumann, die Zierde des Viertels“, erwiderte Vorweg freundlich lächelnd, ging an den Tisch, zog einen Stuhl hervor und setzte sich dem Fleischberg gegenüber. Er hatte Wilhelm einen kurzen Wink gegeben, der sich daraufhin an die Wand neben den Eingang lehnte und die Arme verschränkte. Fünf Augenpaare, vielleicht sechs, wenn man in dem fetten Gesicht etwas erkennen konnte, musterten ihn kurz und richteten dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf Vorweg, der lässig die Beine übereinandergeschlagen hatte und seine Marke auf dem Tisch kreiseln ließ.
Der schäbige Mann kehrte eilig mit einem gefüllten Bierglas zurück und stellte es griffbereit neben die fleischige Hand Neumanns, an der vier große Ringe in allen Farben in das Fett schnitten.

„Ich biete besser Ihnen nichts an. Wir haben noch geschlossen und wir wollen doch nichts tun, das irgendwie als Bestechung von Beamten aufgefasst werden könnte“, stellte Neumann fest und verzichtete auf ein Grinsen.

„Aber nicht doch Herr Neumann. Wie kämen wir denn dazu, einem unbescholtenen Geschäftsmann, einer Stütze der Gesellschaft, etwas in dieser Art zu unterstellen.“ Vorweg fuhr fort, mit seiner Marke zu spielen. „Ich habe übrigens schon gefrühstückt, vielen Dank.“

„Man kann nicht vorsichtig genug sein, mein lieber Herr Kriminalsekretär“, sagte die Fistelstimme.

Vorweg nickte. „In der Tat Herr Neumann, man kann nicht vorsichtig genug sein.“

Die Marke kreiselte weiter über den Tisch. Sie sahen sich an und schwiegen sich an. Neumann führte das Hühnerbein wieder an den Mund und riss ein großes Stück ab. Wegen der dicken Wangen sah sein Mund klein aus, fast wie ein roter Schnabel, in dem das Fleischstück spurlos verschwand. Mit den Resten des Beins wies Neumann in Richtung Tür. Kauend fragte er: „Wen haben Sie denn da mitgebracht?“

„Einen neuen Kollegen.“

„Werden auch immer jünger wie?“

„Und fähiger. Für Nachwuchs ist bestens gesorgt.“

Die kleinen dunklen Punkte fixierten Wilhelm. „Kann er auch reden? Sich vorstellen zum Beispiel? Ist in unseren Kreisen so üblich, wissen Sie?“

Einstudiertes Gelächter kam von den anderen Tischen und erlosch wieder. Wilhelm starrte zurück in die kalten Augen und rührte sich nicht. Er hoffte, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu haben.

„Der Name tut nichts zur Sache. Ist in unseren Kreisen so üblich“, erwiderte Vorweg wie nebenbei.

„Soso.“ Neumann begann, geräuschvoll an den Resten des Hühnerbeins zu knabbern und musterte dabei Vorweg. Schließlich legte er die Knochen beiseite.

„Ich nehme an, dass Sie nicht zufällig hier vorbeigekommen sind?“

„Sie nehmen richtig an.“ Vorweg steckte die Marke in die Tasche. „Wir ersuchen die Öffentlichkeit um Mithilfe.“

„Mithilfe?“ Die Fistelstimme überschlug sich beinahe. „Wie können wir denn der Polizei behilflich sein?“ Neumann sah sich kurz um und seine Männer grinsten wunschgemäß. Aus einer anderen Tasche zog Vorweg das Blatt Papier, dass er sich vor der Tür von Wilhelm hatte geben lassen, faltete es auseinander und schob es über den Tisch. Unmittelbar neben dem Bierglas kam es zum Liegen.

„Wir suchen diesen Mann.“

„Kenne ich nicht.“ Neumann hatte keinen Blick auf das Portrait geworfen, sondern fixierte Vorweg.

„Das stimmt mich traurig, Herr Neumann. Ich hatte gehofft, dass Sie sich etwas mehr anstrengen in Ihren Bemühungen, der Polizei behilflich zu sein. Sie könnten damit beginnen, sich das Bild erst einmal anzusehen.“

Neumann starrte weiter Vorweg an, nahm schließlich das Blatt und hielt es in die Höhe. Der Mann mit dem Taschenmesser stand auf und schlenderte zum Tisch. Langsam nahm er das Blatt und betrachtete es. Ebenso langsam ging er herum und zeigte es jedem der Anwesenden. Niemand verzog eine Miene. Schließlich kehrte der Mann zurück, legte die Zeichnung vor Vorweg auf den Tisch, drehte sich um, ging an seinen Platz und zog das Taschenmesser wieder hervor.

„Meine Männer und ich sind geschäftlich sehr eingespannt. Wenn ich weiter nichts für Sie tun kann?“

„Und ich hatte wirklich gehofft, dass Sie mir weiterhelfen könnten. Ein Mann wie sie, der viele Leute hier kennt und mit fähigen Männern, die sicher noch mehr Leute kennen.“ Vorweg schüttelte leicht den Kopf.

„Nun ja, einen Versuch war es wert gewesen. Ich kann mich für den überaus engagierten Versuch der Hilfe vielleicht dadurch revanchieren, dass ich den Kollegen vom zweiten Revier die Bitte besorgter Geschäftsleute übermittle, in den nächsten Wochen verstärkt in den umliegenden Straßen zu patrouillieren. Sind in letzter Zeit nicht gehäuft Diebstähle vorgekommen?“ Vorweg lächelte freundlich in die Runde. Niemand rührte sich.

„Andererseits stehen auch andere Stadtteile vor einem ähnlichen Problem. Nehmen zurzeit irgendwie überhand diese Diebstähle, nicht wahr? Die Kollegen in den anderen Revieren wären bestimmt für jede Unterstützung dankbar, die ihnen vom zweiten Revier geleistet werden könnte. Sagen wir, die nächsten zwei Wochen.“ Vorweg hatte den letzten Satz nicht als Frage formuliert.

Neumann trank einen großen Schluck, nahm ein Brotstück und widmete sich dem Fett auf dem Teller. Kauend und weiter auf den Teller schauend sagte er: „Vier.“

„Aber Herr Neumann, Sie werden doch nicht mit mir handeln wollen?“

Neumann reagierte nicht. Er hatte seinen Zug getan, ebenso wie Vorweg einen Augenblick vorher. Wilhelm wurde klar, dass es jetzt nur noch darum ging, beiderseits das Gesicht zu wahren. Auf der einen Seite der unbestechliche Polizist, auf der anderen Seite der unbestrittene König des Viertels. Alle Manöver waren nur darauf abgestimmt, wie die Anwesenden das Gespräch und sein Ergebnis interpretieren würden. Alle Anwesenden, abgesehen von ihm.

„Dennoch ist die Polizei stets an einem guten Verhältnis zur Bevölkerung und ihren vornehmsten Teilen interessiert. Wo kämen wir sonst hin, nicht wahr? Drei.“

Jetzt war wieder Neumann an der Reihe.

„Was hat der Mann denn verbrochen, dass ihn die Polizei sucht?“ Das Brot wischte weiter eifrig über den Teller, das Fett war auf kümmerliche Reste zusammengeschmolzen.

„ Er ist ein Zeuge und kann der Polizei bei ihren Ermittlungen helfen. Anscheinend ist er in Geschäften tätig, die ein ungünstiges Licht auf das Viertel und seine Einwohner werfen könnten. Wir möchten uns unauffällig dieser Angelegenheit annehmen.“

Der Teller war nunmehr blank, dennoch wischte Neumann weiter. Schließlich hob er kurz den Kopf und nickte dem Mann mit dem Taschenmesser zu.

„Linienstraße, das gelbe Haus an der Ecke Alexanderstraße, zweiter Stock im Hinterhaus links.“

Wilhelm musste sich ein Lächeln verkneifen. Die Adresse lag gleich um die Ecke, die Straßenjungen hatten ganze Arbeit geleistet. Vorweg wartete. Schließlich nickte Neumann noch einmal.
Der Mann mit dem Taschenmesser fügte hinzu: „Nicht selten ist er im Spreekrug in der Schönhauser anzutreffen. Oft am Mittag.“

Vorweg stand auf und steckte die Zeichnung in die Tasche. Er bedachte alle reihum mit einem strahlenden Blick.

„Es ist mir immer wieder eine Freude, das gute Verhältnis der Polizei zu gesetzestreuen Bürger meinen Vorgesetzten berichten zu können. Besonders das zweite Revier wird sich über eine kurze Nachricht freuen. Bemühen Sie sich nicht, wir finden den Weg allein.“

Niemand reagierte. Vorweg schritt gelassen zur Tür und Wilhelm schloss sich ebenso gelassen an und hoffte, dass niemand das leichte Zittern in den Beinen bemerkt hatte. Es würde keine Probleme geben, soviel hatte Wilhelm verstanden. Das zweite Revier würde drei Wochen sein Auge auf andere Straßenzüge richten, dafür hatten sie genügend Hinweise, um den Gesuchten zu finden. Eine Warnung an den Gesuchten seitens Naumanns und seiner Kumpane war auszuschließen, zu deutlich war Vorwegs Hinweis auf das ungünstige Licht, dass das Viertel, genauer Neumann und seine Kumpane, treffen könnte. Als sie vor der Tür standen, stieß Wilhelm die Luft aus, die er angehalten haben musste, als er das Gasthaus zur Möwe verlassen hatte. Auch Vorweg schien erleichtert, als sie nebeneinander in Richtung Schönhauser liefen.

„Dort vorn ist eine Trinkhalle“, sagte Vorweg. „Ich kann jetzt wirklich ein Bier gebrauchen.“

Schnell erhielten sie zwei Gläser und stellten sich etwas abseits.

„Ich danke für den Einblick in diesen Bereich der Polizeiarbeit“, sagte Wilhelm aufrichtig. Vorweg wischte sich den Schaum vom Mund.

„Immer wieder aufregend, nicht wahr?“

Wilhelm nickte und nippte an seinem Glas.

„Keine Sorge, ein solches Vorgehen ist äußerst selten. Für gewöhnlich ist es für beide Seiten nicht gut, solche Gespräche zu führen und von der Umgebung bemerkt zu werden. Normalerweise nutzen wir für diese Art der Informationsbeschaffung Vigilanten.“

„Polizeispitzel?“

„Richtig. In der Regel Verbrecher der weniger üblen Sorte, Leute, die in der Hierarchie nicht weit oben stehen, dafür aber herumkommen. Meist haben wir etwas gegen sie in der Hand, müssen aber aufpassen, dass sie uns nicht hinters Licht führen.“

„Und warum sind wir nicht diesen weniger gefährlichen Weg gegangen?“

„Aus mehreren Gründen.“ Vorweg trank sein Glas aus. „Erstens hätte ich das zweite Revier in Kenntnis setzen müssen. Zweitens hätte es gedauert, den richtigen Spitzel zu finden, der in der Lage ist, die gewünschte Information beizubringen, wenn sie ihm nicht zufällig bekannt gewesen wäre. Neumann und seine Leute kennen aber jeden hier im Viertel. Und drittens wollte ich mich Neumann mal wieder in Erinnerung rufen. Sie sind dran.“

Wilhelm holte eine neue Runde.

„Übrigens haben wir gerade einen Vigilanten kennengelernt.“

Wilhelm verschluckte sich fast an seinem Bier. Vorweg grinste.

„Ich weiß selbst nicht, wer es ist“, erläuterte er. „Aber der Kriminalkommissar im zweiten Revier hat hier einen Spitzel laufen, nah dran an Neumann. Sie können ja mal raten, wer von den Burschen es sein mag.“

„Lieber nicht. Es ist wohl auch besser, dass ich vergesse, was und wen ich gesehen habe“, antwortete Wilhelm in sein Glas.

Vorweg nickte. „Besser ist es wohl, obwohl ich weiß, dass Ihnen genau das nicht möglich ist, selbst wenn sie es wollten, richtig?“

Wilhelm murmelte eine Zustimmung.

„Eine beeindruckende Fähigkeit, die sinnvoll eingesetzt werden sollte.“

So positiv hatte sich Vorweg noch nie zu seinem möglichen Diensteintritt geäußert. Wilhelm beschloss, das Thema zu wechseln.

„Wie werden wir jetzt weiter vorgehen?“

Vorweg warf einen Blick in die Runde und nickte in eine Richtung. „Der Spreekrug hat noch nicht geöffnet. Daher halte ich es für eine gute Idee, bei unserem Gesuchten anzuklopfen. Vielleicht macht er ja auf?“

Ein weiteres Bier und fünf Minuten später standen sie an der großen Linienstraße, dort wo sie die Alexanderstraße kreuzte. Tatsächlich fanden sie ein Haus, dass man mit etwas gutem Willen als gelb bezeichnen konnte und tatsächlich verfügte es über einen Hinterhof. Sie stiegen eine überraschend gediegene Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Das Treppenhaus war sauber und ordentlich, trotz der Lage schienen hier keine armen Menschen zu wohnen. Allerdings auch keine sonderlich wohlhabenden. Haus und Hinterhof machten vielmehr den Eindruck, dass hier einmal ein gewisser Wohlstand geherrscht hatte, diese Zeiten aber der Vergangenheit angehörten. Auf einem kleinen vergoldeten, leicht angelaufenen Schild stand in geschwungenen Buchstaben Freier von Berghausen. Hier waren sie definitiv richtig. Der Mann schien nicht sehr kreativ in der Wahl von Pseudonymen zu sein, hatte er sich doch Wilhelms Vater als Freier von Harthausen vorgestellt. Harthausen, Berghausen, ein auffälliges Mal im Gesicht – wer sollte hier sonst wohnen, wenn nicht der Gesuchte. Sie würden es zumindest für den Moment nicht herausfinden, denn auf Vorwegs Klopfen wurde nicht geöffnet. Vorweg klopfte erneut und legte das Ohr an die Tür. Schließlich beugte er sich nach unten und warf einen Blick unter dem Türspalt hindurch.

„Scheint niemand da zu sein“, stellt er fest.

„Dann können wir hier warten oder es nachher im Spreekrug versuchen“, zählte Wilhelm die Alternativen auf.

„Es gibt noch eine Möglichkeit“, sagte Vorweg leichthin. „Vernehmen Sie nicht auch einen leichten Gasgeruch?“

Wilhelm war erstaunt. „Gibt es hier bereits …“ Und verstand im selben Moment.

„Natürlich kann ich mich irren“, fuhr Vorweg im Plauderton fort, „aber ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn etwas passieren sollte. Warten Sie einen Moment.“

Er griff in seinen Ärmel und holte einen kurzen festen Stock hervor. „Der beste Freund des Kriminalpolizisten, wenn nicht gerade eine Pistole zur Hand ist. Halten Sie mal.“

Mit der anderen Hand griff er nach hinten in den Hosenbund und brachte einen kleinen Beutel zu Vorschein, dem er ein Bündel Schlüssel entnahm. Kritisch musterte er das Türschloss und öffnete es bereits mit dem zweiten Schlüssel, den er am Bund gewählt hatte.

„Voila. Nun lassen Sie uns nach dem Gasleck schauen.“

Sie traten in die Wohnung und Vorweg schloss die Tür. Vier Türen gingen vom kleinen Flur ab. Rechts befand sich ein seit geraumer Zeit nicht gereinigter Abort, daneben eine kleine Küche voller schmutzigen Geschirrs. Links lag ein unaufgeräumtes Schlafzimmer, dem Eingang gegenüber führte eine Tür in einen Salon, der früher deutlich bessere Tage gesehen hatte, jetzt aber nur noch schäbig wirkte. Kalter Rauch lag Übelkeit erregend in der Luft und lieferte sich einen Wettstreit mit zahllosen Staubteilchen, die im Licht des halb zugezogenen Fensters umhertanzten.
Börsenzeitungen lagen durcheinander auf einen Schreibtisch und einem Sofa, im Kamin waren erst kürzlich zahlreiche Papiere verbrannt worden. In einem Regal, das sich über die gesamte linke Wand erstreckte, stand ein Schachspiel, das sich mitten in einer fortgeschrittenen Partie zu befinden schien. Auf dem Schreibtisch befanden sich zahllose Briefe und Notizen mit umfangreichen Berechnungen. Wilhelm begann darin zu suchen, während Vorweg auf einen Beistelltisch zusteuerte, auf dem er eine Daguerreotypie entdeckt hatte. Ein Mann und eine Frau, augenscheinlich die Mutter, beide gut gekleidet, posierten vor der Tür eines Gebäudes, das durchaus als Herrenhaus durchgehen konnte.

Er reichte Wilhelm das Bild. „Ist er das?“

Wilhelm nickte.

„Identisch mit dem Mann im Café, Übereinstimmung mit der Beschreibung Ihres Herrn Vater, Börsenzeitungen und einschlägige Notizen – ich schätze, wir haben unseren Mann gefunden“, stellte Vorweg fest.

Eine Stunde lang durchsuchten sie den Salon und das Schlafzimmer, immer mit einem Ohr in Richtung Flur lauschend, aber zu Wilhelms Bedauern fanden sie nichts Schriftliches, was auf eine Verbindung mit den Brenkendorff hinweisen würde. Erst spät fiel Wilhelm eine Notiz mit Zugverbindungen auf. Würde man einigen dieser Verbindung folgen, könnte man in die Stadt gelangen, deren Bahnhof dem heimatlichen Gut am nächsten lag. Das war doch etwas. Wilhelm steckte den Zettel in die Tasche. Leise verließen sie die Wohnung und machten sich auf den Weg in die Schönhauser. Der Spreekrug war mittlerweile geöffnet und zahlreiche Besucher hatten sich hereingedrängt, um Schutz vor dem einsetzenden Nieselregen zu suchen und das Mittagsmenü in Anspruch zu nehmen. Wilhelm und Vorweg betraten einen Gastraum, der bis auf wenige Stühle voll besetzt war. Stimmen schwirrten durch den Raum, Gelächter ertönte und Geschirr klapperte. Ein Mann rief lauthals eine Bestellung und wurde vom Wirt ebenso laut darauf verwiesen, gefälligst nach vorn zu kommen. Niemand störte sich daran. Neben dem Eingang sprang ein Mann auf, nachdem er Vorweg gesehen hatte und versuchte, unauffällig den Ausgang zu finden. Auf ein kurzes Kopfschütteln von Vorweg änderte er seine Ansicht und ging langsam zum Tresen, als ob er nie etwas anderes vorgehabt hätte.

„Ein alter Kunde“, erläuterte der Kriminalsekretär leise aus dem Mundwinkel und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Schließlich nickte er zur hintersten Ecke, in der ein Mann allein an einem Zweiertisch saß und in einer aufgeschlagenen Zeitung las. Seinen fast leeren Teller hatte er von sich geschoben, sein Bierglas war aber noch gut gefüllt. Das Gesicht war nur zum Teil zu sehen, aber es war auffällig.

„Jetzt sind Sie dran, Wilhelm“, sagte Vorweg und drängte sich langsam durch die Menschen, die am Tresen eine Bestellung aufgeben wollten.

Nun war es soweit. Wilhelm hatte sich diesen Moment immer wieder vorgestellt, war aber nicht sehr weit in seinen Überlegungen gekommen, wie er die Konfrontation gestalten wollte. Im Nähertreten betrachtete er den Mann, der in diesem Moment eine Seite umschlug und einen Blick auf sein Gesicht freigab. Fettiges Haar legte sich an den Kopf und wand sich über einen Kragen, der voller Schuppen war. Der Mann war unruhig, seine Augen eilten über die verschiedenen Beiträge in der aktuellen Börsenzeitung, wie Wilhelm jetzt erkennen konnte. Seine Körperhaltung war angespannt, geradezu geduckt, als ob er jeden Moment aufspringen würde. Das Gesicht mochte durchaus bei der Börse eine geschäftsmäßige Miene aufsetzen können, besonders wenn sein Besitzer die Haare gewaschen und gekämmt und angemessen saubere Kleidung angezogen hätte. Jetzt aber war keine Maske aufgesetzt, das Gesicht wirkte gehetzt und verschlagen. In diesem Moment wusste Wilhelm, wie er vorgehen wollte.